M/S "ALAN KURDI"
Bericht über die Ereignisse am 26.10.2019 während der
Rettung von 91 Personen aus einem seeuntauglichen Fahrzeug vor der libyschen
Küste
Am 26.10.2019 befand sich die „ALAN KURDI“ seit Sonnenaufgang auf Patrouille
in einem Suchraster 25-35 sm vor der libyschen Küste. Um 10:25 Uhr erreichte uns ein Telefonanruf
vom Einsatzleiter von Sea-Eye e.V. in Deutschland, dass ein oder mehrere Boote morgens um 5 Uhr in
Zuwara gestartet wären und eine mögliche Position eines weißen Schlauchbootes mit 90-95 Personen an
Bord wurde mit 33-15 N 012-06 E benannt. Wir änderten daraufhin unseren Kurs in diese Richtung
und warteten auf weitere Informationen.
12:07 wurde diese Position per Email bestätigt und als offizieller
Seenotfall angegeben. Diese Email ging auch an die zuständigen Behörden. 12:14
sichtete das Aufklärungsflugzeug „MOONBIRD“ das Schlauchboot und gab uns als
Position 33-16 N 012-02 E an. Wir änderten den Kurs entsprechend, verstärkten
den Ausguck und bereiteten uns auf eine mögliche Rettungsaktion vor.
12:57 wurde das Schlauchboot in der angegebenen Position von unserem
Ausguck gesichtet, kurz darauf war es auch von der Brücke aus zu sehen und wir
versuchten, die libysche Küstenwache über UKW 16 zu kontaktieren, um unsere
Hilfe anzubieten, erhielten jedoch keine Antwort auf unsere Rufe.
Als wir noch 1 sm entfernt waren, setzten wir unsere Rhibs (Rettungsboote)
aus, um die Situation zu erkunden und Rettungswesten zu verteilen. Das erste
Boot meldete 91 Personen, davon 2 Frauen, keine Schwerverletzten, das Boot war
vollkommen überladen, aber schwimmfähig. Der Motor lief nicht. Niemand an Bord
hatte eine Rettungsweste. Unsere Boote verteilten daraufhin Rettungswesten und
begannen damit, Leute zu übernehmen, um sie zur „ALAN KURDI“ zu bringen. Dies
verlief zunächst ruhig und geordnet.
Ungefähr 5 sm weiter nördlich wurde von „MOONBIRD“ ein Holzboot in Seenot
gesichtet, welches von Schnellbooten unter Libyscher Flagge ohne Kennung
abgeschleppt wurde. Weiterhin berichtete „MOONBIRD“, dass auf mindestens einem
dieser Schnellboote ein fest installiertes Maschinengewehr am Bug zu sehen
wäre. Auf unserem Radar, im 12 sm Range eingestellt, sahen wir 2 Echos, die
sich schnell auf uns zubewegten. Wir vermuteten zunächst, dass es sich dabei um
die libysche Küstenwache handeln würde und fuhren mit unseren
Rettungsaktivitäten fort.
Die erste Gruppe (2 Frauen und 7 Männer) wurde zur „ALAN KURDI“ gebracht. Während
das andere Boot gerade anfangen wollte, Leute zu übernehmen, erreichten zwei bewaffnete
Schnellboote die Szenerie und hinderten unsere Rhibs daran, weitere Leute zu
übernehmen. Wir verhielten uns zunächst passiv, um zu beobachten, was die
Libyer nun tun würden. Daraufhin begannen mehrere Menschen aus dem Schlauchboot
zu springen, um unsere Rhibs schwimmend zu erreichen. Dies versuchten die Schnellboote
zu verhindern, indem sie immer wieder mit ihren am Bug fest montierten
Maschinengewehren auf das Schlauchboot und die Leute im Wasser zielten, dabei
gestikulierten und etwas riefen, was wir von Bord aus nicht verstehen konnten.
Ich hielt die „ALAN KURDI“ zu diesem Zeitpunkt mit gestoppter Maschine ca. 500
m vom Schlauchboot entfernt.
Als die Schnellboote begannen, auf unsere Rhibs zu zielen und deren
Besatzung zu bedrohen, beorderte ich die Rhibs zurück zur „ALAN KURDI“, um
deren Besatzung zu schützen und wieder an Bord zu nehmen. Während wir das eine
Rhib wieder aufheissten, begann das andere Rhib mehrere Personen aus dem Wasser
aufzunehmen, die es schwimmend erreicht hatten. Die Libyer erlaubten dem Rhib
nicht, aktiv zu im Wasser treibenden Personen hinzufahren, griffen aber nicht ein,
wenn Personen aus dem Wasser gezogen wurden, die das Rhib schwimmend erreicht
hatten. Indessen sprangen immer mehr Personen vom Schlauchboot ins Wasser und
versuchten, zur „ALAN KURDI“ zu schwimmen. Das eine Schnellboot umkreiste die „ALAN KURDI“ während das andere Schnellboot unser noch im Wasser befindliches
zweites Rhib instruierte, welche Menschen es aus dem Wasser retten dürfe und
welche nicht.
Plötzlich gelang es den im Schlauchboot verbliebenen Leuten, ihren Motor
wieder zu starten und zur „ALAN KURDI“ zu manövrieren. Beim Erreichen der „ALAN KURDI“ sprangen viele zu
unserem an der Bordwand befestigten Rettungsnetz und Lotsenleiter und
kletterten an Bord. Dabei ging der Motor aus und das Boot trieb wieder ab. Ein
Manövrieren seitens der „ALAN KURDI“ war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr
möglich, da Gefahr bestand, dass dabei die Schwimmer in die Schiffsschraube
geraten, oder die „ALAN KURDI“ mit einem der libyschen Schnellboote kollidiert.
Zeitgleich wurden an Bord der „ALAN KURDI“ von mehreren Besatzungsmitgliedern
Schüsse vernommen. Das zu diesem Zeitpunkt achterlich der „ALAN KURDI“
befindliche Rhib berichtete, dass von dem einen libyschen Schnellboot aus ins
Wasser geschossen wurde.
Plötzlich wurden wir von einem größeren Militärflugzeug, das wir aber nicht
identifizieren konnten, überflogen. Daraufhin änderten die Libyer ihr Verhalten
und behinderten die Aktion nicht mehr. Eines von ihnen fuhr zu dem ca. 200 m
von der „ALAN KURDI“ entfernt driftenden Schlauchboot und begann dieses zur
„ALAN KURDI“ zu schleppen. Sie gestikulierten und riefen, dass wir die im
Schlauchboot verbliebenen Leute an Bord nehmen sollten, was wir auch taten.
Danach driftete das leere Boot wieder weg und wurde von den Libyern inspiziert.
Es befanden sich immer noch ca. 15 Leute schwimmend im Wasser und wir
begannen nun, diese mit unserem Rhib aus dem Wasser zu ziehen. Einige Leute
waren zunächst von einem der libyschen Schnellboote an Bord genommen worden,
diese sprangen nun aber wieder ins Wasser und schwammen zur „ALAN KURDI“. Wir brachten noch eine Rettungsinsel aus, die von mehreren
Schwimmern erreicht werden konnte. Die libyschen Schnellboote hielten sich nun in
etwa 100-200 m Entfernung von der „ALAN KURDI“, griffen aber nicht weiter ein.
Nachdem wir alle Personen aus dem Wasser gerettet hatten, versuchten wir
das Schlauchboot zu zerstören, was die Libyer aber nicht zuließen. So sammelten
wir nur unsere im Wasser treibenden Rettungsringe, Rettungswesen und weitere
Materialien ein und heissten das Rhib 2 wieder an Bord. Eine Zählung ergab,
dass insgesamt 91 Personen von der „ALAN KURDI“ gerettet wurden. Ob weitere
Personen durch die Libyer gerettet und wieder nach Libyen verbracht wurden, ist
mir nicht bekannt.
Bevor wir die Unfallstelle verließen, suchten wir das Gebiet
mit Ausgucks auf dem Peildeck und im Krähennest, sowie mit Hilfe einer Drohne
ab. Es konnten keine weiteren im Wasser schwimmenden Personen gefunden werden.
Seitens der Geflüchteten wurde zunächst eine Person vermisst, die mit ihnen im Schlauchboot
gesessen hatte. Diese Person wurde aber später an Bord der „ALAN KURDI“
gefunden.
Bei den libyschen Schnellbooten war auffällig, dass die Besatzung zum Teil
vermummt war und dass in einem der Boote mehrere Frauen saßen, die
offensichtlich zu den Männern der Besatzung gehörten. Beide Boote führten die
libysche Flagge, hatten aber keinerlei Kennung und sendeten kein AIS Signal.
Die Besatzung trug keine erkennbaren Uniformen.
Bärbel Beuse, Kapitän des MS „ALAN KURDI“ im Hafen von Taranto, 06.11.2019